Das Erbe von Littlemill
Berry Bros & Rudd, London

Allein schon der Raum ist ungewöhnlich. Wir befinden uns im Keller des ältesten Wein- und Spirituosenhändlers Großbritanniens. Berry Bros. & Rudd liegt an der St James’s Street, gleich gegenüber vom St James’s Palace im Zentrum Londons. Seit 1698 werden hier wertvolle Güter verkauft. Zunächst waren es Kaffee, Tee und Gewürze, später dann kamen flüssige Kostbarkeiten hinzu. In den holzgetäfelten Räumen mit ihren schiefen Böden – das Gebäude ist denkmalgeschützt – stehen verstaubte Wein- und Spirituosenflaschen, manche hundert Jahre alt, andere noch viel älter. Der Laden rühmt sich vieler illustrer Kunden, darunter zahlreiche englische Königinnen und Könige. Auch Winston Churchill versorgte sich hier mit Alkoholischem.
Die berühmteste Legende handelt jedoch nicht von einem Briten, sondern einen Franzosen: Charles-Louis Napoleon, der spätere König Napoleon III., der in den 1830er-Jahren im Londoner Exil lebte, soll seine Rückkehr nach Frankreich von diesem Weinladen aus geplant haben. Genauer: Vom Keller aus. Naja, wahrscheinlich schmiedete er seine Pläne von einem Speisesaal ein paar Stockwerke darüber, sagt Fergus Stewart, Fine Wine Manager bei Berry Bros. & Rudd. „Der Keller war damals wohl voll von Ratten.“ Dennoch heißt der Saal „Napoleon Cellar“. Heute sind keine Ratten zu sehen: Der Keller ist zu einem vornehmen Speise- und Eventsaal umfunktioniert worden. Auch an diesem Abend wird hier nobel diniert – Ente mit Confit Wellington steht auf dem Menu. Aber die Hauptattraktion findet sich in den fünf großzügig gefüllten Whiskygläsern, die vor jedem Gast stehen. Es sind expressions aus einer Destillerie, die es gar nicht mehr gibt.
Littlemill, in der Nähe von Glasgow gelegen, gilt als die erste Brennerei von Schottland. 1773 gab ihr König George III. die Lizenz, „Ale, Bier und andere steuerpflichtige Spirituosen“ zu verkaufen. Mehr als zweihundert Jahre lang wurde in Littlemill Whisky gebrannt. Dann, im Jahr 1994, ging der damalige Besitzer bankrott, die Produktion wurde eingestellt. Der Inhaber der Loch Lomond Distillery, die nur wenige Kilometer entfernt liegt, kaufte Littlemill. Einige Jahre später wurde das Gebäude größtenteils abgebrochen, die Überreste wurden 2004 von einem Feuer heimgesucht. Heute sieht man kaum noch etwas von Littlemill.
Aber es war etwas übriggeblieben: „Wir haben noch immer die Fässer von Littlemill“, sagt Michael Henry. Der breit gebaute Mann mit der leicht gebückten Haltung ist der Master Blender von Loch Lomond – die kreative Kraft, der die charakteristischen Geschmacksprofile der Whiskys durch feinste, jahrelange Nasen- und Gaumenarbeit herausarbeitet. Henry wuchs in der Nähe der Bushmills Distillery in Nordirland auf, die Nähe zum Whisky prägte ihn schon früh. Das Studium der Brauerei und Brennerei in Schottland wurde von Bushmills gesponsert, und Henry arbeitete Teilzeit für seine Heim-Brennerei. Nach seinem Abschluss ging er zunächst in die Bierindustrie, dann kehrte er zum Whisky zurück. Seit 2007 arbeitet er für Loch Lomond.
Henry spricht leise und zurückhaltend, und er ist überaus bescheiden. An seinem Geschmackssinn gebe es gar nichts Außergewöhnliches, sagt der Master Blender. Es sei reine Übungssache: Er rieche jede Woche etwa 200 verschiedene Whiskys, und das seit vielen Jahren – das schärfe die Sinne. Ihm kommt die beneidenswerte Aufgabe zu, das Erbe von Littlemill zu verwalten. Die verbliebenen Fässer der stillgelegten Brennerei sind verteilt auf die Lagerhäuser von Loch Lomond – „so stellen wir sicher, dass wir nicht alles verlieren, falls ein Lager zerstört wird“, erklärt Henry. Der Master Blender überwacht die Destillate, verfolgt ihren Reifeprozess und entscheidet, wie und wann sie vollendet werden. In kleinen, sorgfältigen Schritten werden die Destillate an die Welt gebracht, in einer Reihe von limitierten Abfüllungen.
Heute ist der Tag, an dem das ausgewählte Publikum das neueste Destillat von Littlemill degustieren darf. Mit vollem Namen heißt das Getränk Vanguards Collection Chapter 2: Jane MacGregor. Aber damit die Gäste die neuste expression richtig einordnen und einschätzen können, dürfen sie zunächst die vier bisherigen Littlemill-Whiskys probieren – unter der Leitung des Master Blenders selbst, Michael Henry. Mit atemberaubenden Detailwissen führt Henry durch die Verkostung, angefangen mit Private Cellar, einem 29-jährigen Littlemill-Whisky, der vor 5 Jahren abgefüllt wurde. „Destilliert im Jahr 1990, ist er zunächst in wiedergefüllten Fässern aus amerikanischer Eiche gereift, zum Schluss haben wir in ein Gemisch aus Oloroso- und Limousin-Eichenfässern umgefüllt“, erklärt Henry. Diese Art der Reifung wäre recht typisch gewesen für Littlemill: „Die Brennerei lag am Fluss Clyde in Glasgow, im Westen Schottlands. Aber sie war auch nah am Forth and Clyde Kanal – die Destillerie hatte also auch Zugang zu Fässern aus den Docks von Edinburgh“, erklärt Henry. Und das heißt, dass sie Sherry-Fässer benutzten.
„Wenn Sie jetzt mal riechen und kosten wollen?“ sagt Henry und blickt in die Runde. Das lassen sich die Gäste nicht zweimal sagen. „Cheers!“ klingt es rund um den Tisch, dann wird es still. Zwanzig Nasen verschwinden tief in den Whisky-Gläsern, sie riechen fruchtig-blumige Geschmacksrichtungen, etwas Honig, auch Orange und Holunder. Dann wird vorsichtig genippt, auf der Zunge treten Apfelnoten hervor, Zimt, Muskat, Kiwi – durchaus vorzüglich. „Dies ist der charakteristische Geschmack von Littlemill, der sich durch alle fünf expressions zieht, die wir heute trinken werden“, sagt Henry.
Mit dem zweiten Whisky – dem ersten in der Cask Reflections Collection – hat der Master Blender etwas ganz Besonderes gemacht: Nach der traditionellen Reifung in amerikanischer Eiche hat er das Destillat in Fässer aus japanischer Mizunara-Eiche umgefüllt. „Es ist ein sehr langsam wachsender Baum, und es gibt eine begrenzte Menge an Holz, die jedes Jahr produziert wird“, erklärt Henry. Die Cooperage in Japan, also die Fassmacherei, konkurriert mit Möbelmachern, um sich ausreichende Vorräte des Holzes zu sichern. „Wir mussten zwei Jahre warten, bis wir die Fässer kaufen konnten“, sagt Henry. Das Littlemill-Destillat wurde dann etwas mehr als vier Monate lang in den Mizunara-Fässern gelagert. „Das gibt ihm einen sehr würzigen Geschmack, der sich zum fruchtigen Charakter des Destillats gesellt.“ Die Gäste sind hingerissen. „Vier Monate nur. So wenig Zeit – und dennoch eine solche Präsenz!“ schwärmt einer.
So geht der Abend weiter. Es wird gefachsimpelt, geschnuppert, getrunken. Nach zehn Uhr, als die Treacle Tarts und das Granny Smith Sorbets schon in den Mägen verschwunden sind, geht es auf den Höhepunkt zu, die Vanguards Collection. Die Whiskys basieren auf den ältesten Destillaten von Littlemill, jenen aus den 1970er-Jahren. Die Kollektion ist eine Homage an einige führende Figuren in der 200-jährigen Geschichte von Littlemill. Vanguards Chapter 1, der letztes Jahr vorgestellt wurde, trägt den Namen von Robert Muir, der 1773 die Lizenz zum Whisky-Brennen erhielt. Es ist eine exklusive Flüssigkeit: Nur 250 Flaschen sind abgefüllt worden, und jede ist handsigniert von
Michael Henry.
Vanguards Chapter 2, der an diesem Abend zum ersten Mal von Leuten außerhalb der Brennerei gekostet wird, ist noch älter: 47 Jahre. Er ist Jane MacGregor gewidmet, die 1823 die Littlemill-Lizenz übernahm – sie war die erste Frau, die in Schottland eine Brennerei von der Größe von Littlemill geleitet hat. „Ihr ganzes Leben lang hat diese Flüssigkeit in den ursprünglichen Fässern verbracht, in die sie 1976 gefüllt wurde“, sagt Michael Henry. Anfang dieses Jahres hat er zwei der Fässer ausgewählt und sie zusammengeführt – „verheiratet“, wie es in der Fachsprache heißt – und dann einen Monat lang weiter reifen lassen, bevor sie abgefüllt wurden. Erneut gibt es nur 250 Flaschen davon, und entsprechend ansehnlich ist der Preis: 14‘000 Pfund kostet die Flasche.
Zum letzten Mal an diesem Abend riechen die versammelten Whisky-Liebhaber die fruchtig-floralen Noten von Littlemill, ihre Gaumen schmecken die typischen Noten von Zitrone und Pfirsich. Frohe Stimmung rundherum – sicherlich auch eine Folge des Alkoholgenusses: Die drams waren nicht zu knapp bemessen. Aber als die Gäste den Abend bei Kaffee ausklingen lassen und hin und wieder zu ihren noch immer halb gefüllten Gläsern greifen, scheinen sie auch von einer tiefen Genugtuung ergriffen, dass sie ein Stück Whisky-Geschichte
miterlebt haben.
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Bezugsquelle
www.hawe-bremen.de
Text
Peter Stäuber ist freier Journalist. Er zog 2010 von der Schweiz nach London, seither schreibt er über britische Politik und Kultur. Nebenbei schreibt er für den Whisky-Botschafter.
Bilder
Horst A. Friedrichs ist Fotograf und Fotojournalist und lebt seit 26 Jahren in London. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, unter anderem über britische Pubs und Whisky.