Das Kreuz mit dem Whisky

Ardbeg Distillery und Kildalton Cross

Alkohol ist zwar ein Lösungsmittel, löst aber bekanntlich keine Probleme – im Gegenteil: Wenn (zu viel) Alkohol im Spiel war, hat sich schon so manche Beziehung und Freundschaft aufgelöst. Das gilt auch für Whisky. Während einer Reise auf die Insel Islay hat sich Whisky-Vikar ein paar Gedanken zu den Krisen des Lebens und den Krisen der Welt gemacht, die man im Folgenden nachlesen kann.

 

An Krisen mangelt es momentan wahrlich nicht: Zur so genannten Klimakrise kam der russische Krieg gegen die Ukraine, der wiederum eine Energiekrise zur Folge hatte – um von persönlichen Krisen wie Krankheiten oder Todesfälle im Familien- oder Freundeskreis ganz zu schweigen. Das Wort „Krise“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet ursprünglich „Entscheidung“. Eine Krise ist immer eine Herausforderung, die nach einer Entscheidung verlangt: Wie gehe ich mit der Krise um?

Mit einer angesichts dessen, zugegebenermaßen ziemlich banalen Krise wurde ich 2017 konfrontiert, als ich zum ersten Mal mit einer Gruppe von „Whisky-Wallfahrern“ die Insel Islay besucht habe. Auf dem Programm stand damals unter anderem das Kildalton Cross, eine der bedeutendsten und bekanntesten Sehenswürdigkeiten der Insel. Dabei handelt es sich um ein steinernes Hochkreuz, das nach über 1200 Jahren noch immer an derselben Stelle steht, an der es einst errichtet wurde.


Ardbeg statt Kildalton

Das Problem dabei: Es befindet sich an einem ziemlich abgelegenen Ort im Südosten der Insel. Damals sollte uns unser Bus dorthin bringen. Kurz bevor wir aufbrechen wollten, berichtete allerdings unser (nicht von Islay stammender) Busfahrer, dass ihn ein anderer Busfahrer gewarnt hätte: Man könne mit einem solch großen Bus wie dem unseren zwar hinfahren, doch gäbe es dort keine Möglichkeit zum Wenden. Also blieb uns gar nichts anderes übrig, als unser Programm kurzfristig zu ändern. Stattdessen machten wir Halt bei der Ardbeg Distillery, obwohl wir gerade erst von der Laphroaig Distillery kamen und unterwegs auch noch bei der Lagavulin Distillery Halt gemacht hatten. Statt Spirituality gab’s also einmal mehr Spirit – was immerhin ein hochprozentiger und nicht nur ein schwacher Trost war. Allerdings fällt es einem gewöhnlich umso schwerer, von einem Vorhaben abzulassen, je knapper es scheitert. Und darum stand seither für mich fest: Ich möchte Kildalton Cross besuchen!

 

Auf spirituellen Wegen

Im Herbst 2022 war es schließlich soweit. Diesmal war ich allein auf Islay unterwegs und hatte mir einen ganzen Tag für den Süden der Insel reserviert. Ich wollte mich auf einen im doppelten Sinn spirituellen Pilgerweg begeben: zu Fuß von Port Ellen bis zum Kildalton Cross, eine Strecke von ungefähr 14 Kilometern. Immerhin gibt’s auf dieser Strecke mehr als genug Raststätten – „spirituelle“ Raststätten sogar: die Laphroaig Distillery, die Lagavulin Distillery und schließlich die Ardbeg Distillery. Wenige hundert Meter hinter Port Ellen befindet sich allerdings ein Ort, den man nicht einfach so links liegen lassen sollte: gleich neben der Straße erhebt sich dort inmitten einer umzäunten Weide ein so genannter Standing Stone, ein Megalith, der dort bereits etliche Jahrhunderte länger steht als selbst Kildalton Cross. Warum dieser Standing Stone einst errichtet wurde und warum gerade hier, ist unbekannt. Aber eines ist klar: Er regt zum Innehalten, zum Verweilen, zum Nachdenken an – bis heute.

 

Steingewordene Zeigefinger

Diesen Standing Stone hatte ich mir zum Startpunkt meiner Fußwallfahrt erkoren, denn die berühmten keltischen Hochkreuze wie das Kildalton Cross sind letztlich nichts anderes als die Fortführung dieser uralten Tradition. Wie die Standing Stones erfüllen die Hochkreuze ebenso wie die meist aus deutlich späterer Zeit stammenden Kirchtürme einen einzigen Zweck: Sie sind so etwas wie steingewordene Zeigefinger, die den Blick nach oben lenken sollen, weg von dem, was einen gerade herunterzieht. Um den Blick nach oben richten zu können, braucht man allerdings einen festen Stand. Andernfalls bestünde die Gefahr, aus dem Gleichgewicht zu geraten, die Bodenhaftung zu verlieren, zu fallen und sich danach erst recht auf dem harten Boden der Realität wiederzufinden. Es geht also nicht darum, die Realität auszublenden, sondern, ganz im Gegenteil, es geht darum, die Realität ein wenig zu relativieren und sich bewusst zu machen, dass unsere Welt eben nicht eindimensional ist.


Bilder zum Artikel:


Ardbeg und Kildalton

Darum ist es wichtig, auf dem eigenen Lebensweg ebenso wie auf meiner kleinen Fußwallfahrt von Port Ellen zum Kildalton Cross immer wieder einmal Rast zu machen, geeignete Rastplätze anzusteuern, um dort neue Kraft zu sammeln. Auch wenn bei der reichen Auswahl von gleich drei auf dem Weg gelegenen Destillerien die Wahl schwerzufallen schien, war für mich von Anfang an klar, wo ich Halt machen würde: bei der Ardbeg Distillery nämlich. Und das hatte nicht nur praktische Gründe. Denn zwischen der Ardbeg Distillery und dem Kildalton Cross gibt es seit jeher eine enge Verbindung, die zunächst einmal daher rührt, dass diese Destillerie, die dem keltischen Hochkreuz am nächsten gelegen ist. Wenn man die Ardbeg Distillery erreicht hat, liegt allerdings erst ein Drittel der Strecke hinter einem. Dennoch ist man bei Ardbeg bis heute sehr stolz auf die geografische Nähe zum Kildalton Cross und damit zu einer der berühmtesten Sehenswürdigkeit der gesamten Isle of Islay.

 

Drei legendäre Abfüllungen

Drei mittlerweile fast legendäre Ardbeg-Abfüllungen tragen sogar den Namen „Kildalton“: 2004 erschien die erste davon, die – ungewöhnlich für die Destillerie – aus vergleichsweise schwach rauchigem Malz hergestellt wurde und danach 23 Jahre Zeit zum Reifen hatte. 1300 Flaschen wurden davon abgefüllt. Der zweite Ardbeg Kildalton erschien ein Jahr später, hatte dafür aber auch 24 Jahre im Fass verbracht. Interessanterweise gab es diese Abfüllung ausschließlich in 50-ml-Fläschchen. Der dritte und bislang letzte Ardbeg Kildalton erschien 2013 – im Unterschied zu seinen beiden Vorgängern leider ohne Altersangabe und nicht in Fassstärke. Was ihm an Alter und Prozenten fehlte, wurde allerdings durch eine Verpackung wettzumachen versucht, die ihresgleichen sucht: Auf der geradezu gigantischen und nicht minder edlen Schachtel, die im für Ardbeg typischen Dunkelgrün gehalten ist, prangt ein stilisiertes Keltenkreuz, bei dem es sich natürlich um das Kildalton Cross handelt.

 

Noch nicht da und doch am Ziel

Aber damit nicht genug: Auf der Rückseite der Verpackung eines jeden Ardbeg Ten, dem Klassiker der Destillerie, findet sich immerhin ein kleines Bild von Kildalton Cross samt kurzer Erläuterung. Doch so untrennbar Ardbeg und Kildalton Cross auch verbunden sein mögen, musste ich mich von Ersterer trennen, um Letzteres erreichen zu können. Nachdem der Großteil des Weges noch vor mir lag, ließen mich Unruhe und Neugier bald wieder aufbrechen. Vor mir lag – zumindest für mich – Neuland. Die Straße, die von der Ardbeg Distillery zum Kildalton Cross führt, ist eine Sackgasse. Abgesehen von einer nur wenige Häuser umfassenden Streusiedlung namens Kintour und der Ardtalla Farm ist dieser Teil der Insel Islay unbewohnt. Nur wenige Autos überholten mich und kamen mir meist bald schon wieder entgegen. In ihnen waren wohl überwiegend Touristen unterwegs, die dasselbe Ziel hatten wie ich. Ich neidete ihnen ihr rasches Vorankommen nicht. Denn der Weg war es wert, gegangen zu werden.

 

Klösterliche Tradition

Der Weg zum Kildalton Cross gleicht einer Meditation über das „Wasser des Lebens“. Denn Wasser ist schier überall: Mal überquert die Straße einen Bach, mal gibt sie den Blick auf einen Tümpel frei, mal streift sie eine Meeresbucht. Überall gluckert, gluckst und plätschert es. Und schließlich, nach einer letzten Bach-überquerung ist man am Ziel: Inmitten eines kleinen, ummauerten Plateaus, eines ehemaligen Friedhofs, erhebt sich die Ruine der Kildalton Chapel – und davor steht es, das gleichnamige Kreuz. Der Längsbalken ist stattliche 2,65 Meter hoch, der Querbalken 1,32 Meter breit. Gefertigt wurde es wohl von Mönchen oder Handwerkern, die auf der etwa 70 Kilometer Luftlinie entfernten Klosterinsel Iona zu Hause waren oder dort gelernt hatten. Jedenfalls entstand das Kildalton Cross zur selben Zeit wie die nicht minder berühmten Hochkreuze auf Iona. Damals, in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts, befand sich das Kloster gerade in seiner Blütezeit, die allerdings bald darauf abrupt endete.

 

Das Leben gewinnt

Es waren die Wikinger, die durch ihre fortgesetzten Überfälle der keltischen Klosterkultur in Schottland ein grausames Ende bereiteten. Aber auch vorher schon war das Leben auf den Hebrideninseln hart. Dies spiegelt sich wider in den biblischen Szenen, die auf dem Kildalton Cross dargestellt sind: die Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain (Gen 4,8), Abra-ham, der meint, Gott seinen Sohn opfern zu müssen (Gen 22,10) und der spätere König David, wie er mit einem Löwen kämpft (1 Sam 17,34). Es sind gewalttätige Szenen, die aber zugleich auch trostreich sind. Denn in allen Fällen gewinnt am Ende das Gute, das Leben. Der unbekannte Schöpfer des Kildalton Cross wollte den Menschen seiner Zeit auf diese Weise deutlich machen, dass es mitunter gerade die scheinbar heil- und hoffnungslosen Situationen im Leben sind, die zu neuem, besserem Leben führen. Und genau das kann man auch vom Whisky lernen – ganz egal, ob er nun in der Ardbeg Distillery oder woanders entstand.

 

Der Weg des Whiskys

Denn auch mit dem, was einmal Whisky werden soll, wird bekanntlich nicht gerade zimperlich umgegangen: Getreide wird zum Keimen gebracht, die Keimung gewaltsam gestoppt, das so entstandene Malz zermahlen und der darin enthaltene Zucker mit heißem Wasser ausgewaschen, Hefe lässt die süße Flüssigkeit aufwallen und gären, bevor der darin enthaltene Alkohol durch mindestens zweimaliges Sieden konzentriert wird. Schließlich wird das Destillat in Fässer gezwängt und für Jahre weggesperrt. Was aber nach diesen Jahren, mitunter auch erst nach Jahrzehnten aus den dunklen, muffigen Lagerhäusern hervorgeholt wird, hat sich wunderbarerweise von einer farblosen, nicht sonderlich wohlschmeckenden Flüssigkeit in eine goldbraun schimmernde Köstlichkeit verwandelt – in etwas, das nun in Flaschen abgefüllt, aufwendig verpackt, in alle Welt exportiert und zu beträchtlichen Preisen feilgeboten wird, um am Ende von vielen Menschen gekauft, geschätzt und genossen zu werden.

 

Vom Whisky zum Leben

Man kann durchaus von einer Art Kreuzweg sprechen, den der künftige Whisky gehen muss, um zu dem zu werden, wofür er von Anfang an bestimmt war. So brutal ihm in der ersten Phase seines „Lebens“ auch mitgespielt wurde, so sehr er danach auch zurückgesetzt und vergessen schien – nichts davon hat ihm am Ende geschadet, im Gegenteil: Aus alledem ging er – und zwar im wahrsten Sinn des Wortes – geläutert, gestärkt und gereift hervor. Und im menschlichen Leben ist es oft ganz ähnlich. Jeder Mensch gerät früher oder später einmal in Situationen, in denen er sich gehemmt, zerrieben, ausgelaugt, aufgewühlt, ausgebrannt, eingeengt und hingehalten fühlt. Wenn man es in solchen Situationen mit einem guten Whisky hält – es muss ja nicht unbedingt ein Ardbeg Kildalton sein –, ist man jedenfalls nicht schlecht beraten. Die Ardbeg Distillery
und das Kildalton Cross, Whisky und die „Kreuze“ und Krisen des Lebens haben jedenfalls mehr miteinander zu tun, als man vermuten könnte.


Autor

Dr. Wolfgang F. Rothe
wasserdeslebens@gmx.net

 

Fotovermerk

iStock, Bernhard Czerny, Wolfgang F. Rothe

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