Warten als Weg
Daftmill Distillery
„Geduld bringt Rosen“, sagt ein altes Sprichwort, das heutzutage kaum noch gebräuchlich ist. Denn Geduld braucht man immer seltener. Wie wichtig es sein kann, sich mitunter in Geduld zu üben, hat Whisky-Vikar Wolfgang F. Rothe bei seinem Besuch der Daftmill Distillery erfahren. Denn hier kann man lernen: „Geduld bringt Whisky“ – und zwar Guten!
Feste Gewohnheiten haben ihre Vor- und Nachteile. Sie geben dem Leben Halt und Struktur, lassen einen aber auch leicht bequem und unflexibel werden. Zu meinen festen Gewohnheiten gehört es, jedes Jahr Anfang Oktober für einige Tage nach Schottland zu reisen – und zwar allein, um in Ruhe Destillerien und andere „spirituelle“ Orte zu besuchen und dort möglichst viele Erfahrungen und Geschichten zu sammeln.
Diese Erfahrungen und Geschichten sind dann das „Material“ für meine Beiträge in diesem Magazin. Schon lange – etliche Jahre lang – hatte ich vorgehabt, einmal über die Daftmill Distillery zu berichten. Doch jedes Mal, wenn ich dort im September angefragt habe, ob ich Anfang Oktober vorbeikommen könne, bekam ich dieselbe lapidare Antwort: „Nein, das geht leider nicht, Anfang Oktober sind wir in den Kartoffeln.“
Klassische Farmdestillerie
Diese Antwort war ebenso enttäuschend wie verständlich: Schließlich ist die Daftmill Distillery eine von gerade einmal zwei schottischen Destillerien - die andere ist die Lochlea Distillery -, die als klassische Farmdestillerie betrieben werden. Das bedeutet: Der normale Farmbetrieb geht vor; destilliert wird immer und nur dann, wenn der normale Farmbetrieb ruht oder es dabei zumindest etwas ruhiger zugeht – also in den Monaten November bis Januar sowie im Juni und Juli.
Und im normalen Farmbetrieb steht Anfang Oktober für gewöhnlich – zumindest in Schottland – die Kartoffelernte an. Von daher blieb mein Wunsch nach einem Besuch der Daftmill Distillery über etliche Jahre hinweg unerfüllt. Doch dann kam der selbst für schottische Verhältnisse ungewöhnlich kühle und feuchte Sommer des Jahres 2021, der die Kartoffelernte um ein bis zwei Wochen nach hinten verschob.
Unterwegs in Fife
Als ich, wie gewöhnlich, im September letzten Jahres vorsichtig anfragte, ob ich Anfang Oktober vorbeikommen könnte, um die Destillerie zu besichtigen, bekam ich zu meiner Überraschung und Freude postwendend zur Antwort: „Ja, sehr gerne!“ Meine Geduld hatte sich also gelohnt, mein Wunsch sollte Wirklichkeit werden! Selten zuvor war ich auf den Besuch einer Destillerie so gespannt wie auf den der Daftmill Distillery!
Am vereinbarten Tag fuhr ich also mit dem Zug nach Ladybank, einer kleinen Ortschaft mitten in der Region Fife, jener landschaftlich wie kulturell oft unterschätzten Landzunge, die zwischen den Lowlands und den Highlands in die Nordsee ragt. Von dort ging es per Bus weiter nach Bow of Fife, einem Dorf, das lediglich eine Kirche und drei kleine Häuser umfasst. Das letzte Stück des Wegs galt es zu Fuß zu bewältigen.
Pittoreske Anlage
Und dann lag sie vor mir, die Daftmill Farm: im Zentrum der pittoresken Anlage das bescheidene, aus Bruchsteinen errichtete Wohnhaus, davor ein kleiner Platz, um den herum sich ein paar zweckmäßige Farmgebäude gruppieren, und dahinter ein Teich mit einer munteren Gänseschar. Den südlichen Teil der Anlage bilden die eigentlichen Destilleriegebäude einschließlich des bislang einzigen Lagerhauses.
Ich klopfte an die Haustür des Wohnhauses. Nicht regte sich. Dann ging ich um das Haus herum und probierte es an einer Nebentür. Wiederum blieb es still. Nur die Gänseschar watschelte schnatternd über den Hof, als ob sie nachschauen wollte, wer da ihre Ruhe stört. Ich probierte es wieder und wieder und durchstreifte die gesamte Anlage. Doch schließlich musste ich mir eingestehen: Es war niemand zu Hause.
Ein Ort zum Warten
Man hatte mich offenbar vergessen. Wie es schien, hatte ich den weiten Weg vergeblich auf mich genommen und mich umsonst gefreut. Doch gerade, als ich enttäuscht den Rückweg antreten wollte, kam mir ein Gedanke: Was, wenn ich mich in Geduld übte und einfach wartete? Irgendwann würde schon jemand kommen. Auch wenn ich vergessen worden war – einfach wegschicken würde man mich dann gewiss nicht.
Und so wartete ich, und zwar volle eineinhalb Stunden lang. Und siehe da: Ich genoss das Warten an diesem besonderen Ort: die Idylle um mich herum, die üppige Landschaft, die würzige Luft, die gepflegten Farmgebäude und nicht zuletzt die tiefe Ruhe, die nur hin und wieder von der unermüdlichen Gänseschar durchbrochen wurde, wenn sie schnatternd an mir vorbeimarschierte, um nach dem Rechten zu sehen.
Beginn einer neuen Ära
Tatsächlich gibt es wohl kaum einen Ort, der besser zum Warten geeignet wäre als die Daftmill Distillery. Gegründet wurde sie 2005 als eine der ersten neuen Destillerien nach einer langen Phase, in der Destillerien in Schottland eher geschlossen als neu eröffnet wurden. Damals gab es in der gesamten Whisky-Region Lowland gerade noch drei Single Malt produzierende Destillerien; heute sind es mehr als vier Mal so viele.
Dabei wurde die Daftmill Distillery von Anfang an nicht als eigenständiger Gewerbebetrieb konzipiert, sondern als nebenberufliche Farmdestillerie – ein Konzept, das bis zum 19. Jahrhundert allgemein üblich war, danach aber alsbald komplett verschwand. Dieses Konzept wieder aufleben zu lassen, ging mit einem nicht unerheblichen Wagnis einher, denn die Investitionskosten für eine neue Destillerie sind immens.
Bilder zum Artikel:
It’s ready when it’s ready
Die Brüder Francis und Ian Cuthbert, die Eigentümer der Daftmill Farm, ließen sich davon aber nicht abschrecken. Im Dezember 2005 konnten sie ihren ersten New Make destillieren und in Fässer füllen. Danach begann sowohl für sie selbst als auch für alle Whisky-Liebhaber, die schon bald der ersten Abfüllung aus der neuen Destillerie entgegenlechzten, eine lange Zeit des Wartens und eine harte Geduldsprobe.
Denn im Unterschied zu den meisten anderen neuen Destillerien, die verständlicherweise bestrebt sind, möglichst schnell Einnahmen zu erzielen, um die getätigten Investitionen und die laufenden Kosten zu bestreiten, setzten die Gebrüder Cuthbert auf Zeit – auf viel Zeit sogar. „It’s ready, when it’s ready“, lautet ihre Maxime. Und das bedeutete, dass sie ihren ersten Whisky erst abfüllen würden, wenn er perfekt wäre.
Inaugural Release
Wer also damit gerechnet hatte, dass die Erstabfüllung aus der Daftmill Distillery nach der gesetzlich vorgeschriebenen Mindestreifezeit von drei Jahren, also Ende 2008 oder Anfang 2009, auf den Markt kommen würde, sah sich enttäuscht. Tatsächlich verstrichen am Ende mehr als zwölf lange Jahre, bis es endlich so weit war: 2018 erschien die gerade einmal 639 Flaschen umfassende „Inaugural Release“!
Um an eine dieser heißbegehrten Flaschen zu gelangen, musste man an einer Verlosung teilnehmen – wobei aber nicht die Flaschen selbst verlost wurden, sondern das Recht, eine davon käuflich zu erwerben. Als ich vor der Daftmill Farm saß und darauf wartete, dass jemand von ihren Bewohnern heimkam, erinnerte ich mich dankbar daran, dass ich seinerzeit zu den glücklichen Gewinnern dieser Verlosung gehört hatte.
Das Warten hat ein Ende
Mit solchen Gedanken verging die Zeit schneller, als mir am Ende lieb war, denn irgendwann würde ich mich, ob ich wollte oder nicht, auf den Rückweg nach Edinburgh machen müssen. Doch schließlich hörte ich ein Motorengeräusch. Ein Auto fuhr auf den Hof, dem eine Frau entstieg, die sich mir als die Ehefrau von Francis Cuthbert vorstellte. Nachdem ich ihr erklärt hatte, wer ich sei, rief sie umgehend ihren Mann an.
Die Nachricht, die er mir ausrichten ließ, erleichterte mich ebenso wie sie ernüchterte: Es tue ihm leid, er hätte unsere Verabredung völlig vergessen. Jetzt aber sei er gerade mit dem Vieh beschäftigt und könne nicht sofort kommen. Eine Stunde würde ich mich wohl noch gedulden müssen. Am Ende verstrichen weitere eineinhalb Stunden, aber immerhin wusste ich währenddessen, dass ich nicht umsonst warten würde.
Langsame Produktion
Es war bereits später Nachmittag, als Francis Cuthbert endlich auf seinem Traktor vorfuhr. Vermutlich hätte er sich lieber der von den Hinterlassenschaften seiner Rinder gezeichneten Latzhose entledigt, die Füße hochgelegt und eine Tasse Tee eingeschenkt. Nachdem ich aber so lange auf ihn gewartet hatte, blieb ihm kaum etwas anderes übrig, als mich vor dem Feierabend noch durch seine Destillerie zu führen.
Das allerdings tat er mit Leidenschaft und spürbarem Stolz. Dabei erfuhr ich, dass er den größten Teil der auf seiner Farm angebauten Gerste an Macallan verkauft. Lediglich etwa hundert Tonnen pro Jahr behält er für sich, um sie von der Firma Crisp Malt in Alloa mälzen zu lassen. Der Produktionsprozess verläuft bei Daftmill in allen seinen Etappen deutlich langsamer, als es in anderen schottischen Destillerien üblich ist.
Mit viel Geduld
Das Maischen dauert hier etwa 10 Stunden – andernorts beschränkt man sich oft auf gerade einmal drei Stunden –, während man der Fermentation mindestens 100 Stunden Zeit lässt. Dasselbe gilt für die eigentliche Destillation, die in den beiden von der Firma Forsyth in Rothes gefertigten Brennblasen vonstattengeht. Vor der Abfüllung wird der New Make auf den traditionellen Alkoholgehalt von 63,5 % herabgesetzt.
Die Gebäude, in denen sich die Destillerie befindet, blicken ebenfalls auf eine lange Geschichte zurück: Sie wurden 1809 erbaut und beherbergten ursprünglich eine Mühle. Lediglich das Lagerhaus wurde 2004 von Grund auf neu errichtet. Es ist mittlerweile gut gefüllt, auch wenn pro Jahr gerade einmal hundert Fässer neu hinzukommen. Dementsprechend rar und begehrt sich die Whiskys, die hier heranreifen dürfen.
Geduld bringt Whisky
Nachdem mir Francis alles gezeigt und meine zahlreichen Fragen beantwortet hatte, ließ er es sich nicht nehmen, mir auch noch eine Kostprobe aus seiner Produktion einzuschenken – und eine weitere mit auf den Weg zu geben. Denn mittlerweile ging der Nachmittag in den Abend über. Und so war es an der Zeit, dass ich mich auf den Rückweg nach Edinburgh machte und ihn in den wohlverdienten Feierabend entließ.
Mein Besuch in der Daftmill Distillery war ganz anders verlaufen, als ich es mir vorgestellt hatte. Statt zum vereinbarten Zeitpunkt erwartet zu werden, hatte ich viel Zeit mit Warten vertan. Vertan? Nein, nicht wirklich vertan. Denn an diesem besonderen Ort habe ich einmal mehr gelernt, wie wichtig es ist, warten zu können. Denn manchmal muss man, um sein Ziel zu erreichen, nichts anderes tun, als sich in Geduld zu üben.
Autor
Dr. Wolfgang F. Rothe
wasserdeslebens@gmx.net
Fotovermerk
Wolfgang F. Rothe